anderweitig veröffentlicht (von mir): Der Geschichtenerzähler
Der Geschichtenerzähler
Ich hatte gestern einen Traum, der war irgendwie... wie soll ich sagen... kafkaesk, sagte er. Melanie durchbohrt ihn mit einem skeptischen Blick, bevor er überhaupt anfing zu erzählen. Er schaute sie an - mit einem Blick ohne Adjektiv - und fängt an zu erzählen: Ich, beziehungsweise mein Traum-alter-ego, war auf einem Friedhof spazieren. Die Wege dort waren sehr verschlungen. Aber irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, ich würde laufen, irgendwie wurde ich von einer unsichtbaren Macht gezogen. In der Ferne sah ich einen aufgeworfenen Grabhügel, von dem wohl diese magnetische Kraft ausging. Dann war irgendwie der Grabhügel plötzlich neben mir. Ich blieb stehen, beziehungsweise wurde zum Stehen gebracht. Am Grabhügel standen zwei Männer mit einem unbeschrifteten Grabstein, den sie in die Erde stießen. Sie gingen, und ein Graveur kam. Er fing an, mit einem Bleistift auf den Grabstein zu schreiben. Die Schrift leuchtete im hellsten Gold. Ich stand wie angewurzelt da und wartete begierig darauf, dass er endlich den Namen schreibt. Als er gerade 'Hier ruht F...' geschrieben hatte, hielt er inne und schaute mich irgendwie vorwurfsvoll an, als ob er nicht weiter schreiben könnte, wenn ich ihn weiter beobachtete. Ich konnte aber nicht wegschauen. Plötzlich fing ich an zu schweben, in der Luft wurde ich auf den Rücken gedreht, und schwebte in das Grab. Ich schaute nach oben. Dort erstrahlte, im schönsten Gold - mein Name. Als ich aufwachte, war ich glücklich, beendet er seine Erzählung. Du lügst doch wie gedruckt, meint Melanie. Wieso? fragt er. Die Geschichte kenn' ich irgendwoher, ich habe sie irgendwann mal gelesen, antwortet sie. Vielleicht hast du mal von einem ähnlichen Traum gelesen, schließlich gibt es viele universelle Träume, die jeder kennt. Fluchtträume, Träume, in denen man fällt, Träume, in denen man nackt ist an einem sehr belebten Ort. Die ganze Traumdeutung basiert schließlich auf der Universalität und Allgemeinheit von Träumen, versucht er sich 'rauszureden. Ungläubig schaut sie durch ihn durch, er weicht ihrem Blick aus, und schaut verstohlen auf ihre entblößte Brust, an der ihr Baby Lukas genüsslich nuckelt. Er wünschte, er wäre an dessen Stelle. Sie schweigen sich eine Weile an. Im Hintergrund läuft das Radio. Wie geht's deinem Kind? fragt sie schließlich. Gut, antwortet er.
You're nobody till somebody loves you, you're nobody till somebody cares
tönte Dean Martin's Stimme aus dem Radio. Wirklich? fragt sie skeptisch. Ja doch, ich glaube schon, antwortet er unsicher; für einen kurzen Moment konnte man so etwas wie Wehmut und Trauer in seinen Augen sehen. Er hatte sich vor einigen Jahren von seiner Frau scheiden lassen, das Kind war bei ihr. Aufgrund seiner finanziellen Lage zahlt er keinen Unterhalt und hat sein Kind schon seit einigen Monaten nicht gesehen.
You may be king, you may possess the world and its gold
Er zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch quillt aus dem Mund, wie sonst nur der Schall seines Wortschwalls. Er bläst Kringel in die Luft. Circles of life, witzelt er. Die Kringel lösen sich auf. Könntest du bitte 'rausgehen, wenn du rauchst, sagt sie. Er drückt die Zeigarette aus.
But gold won't bring you happiness when you grow old
The world still is the same, you'll never change it
As sure as the stars shine above
Irgendwie tiefgründig der Song, sagt er. Das ist Dean Martin, sagt sie skeptisch. Na und, warum sollte eine amerikanische Las-Vegas-Show-Musik nicht auch Tiefgang haben, entgegnet er. Wenn du meinst, meint sie kopfschüttelnd.
You're nobody 'till somebody loves you, so find yourself somebody to love
Sie reden eine Weile über belanglose Dinge, und zappen, wie es bei solchen Gesprächen üblich ist, von einem Thema zum anderen. Sie reden über Songs, Schokoriegel, das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Im Laufe des Gesprächs degradiert Melanie ihn vom Gesprächspartner zum Zuhörer, wie immer, wenn man sich mit ihr unterhält. Er aber findet Erniedrigungen aller Art erregend. Also sinkt er in seinen Sessel und verschmilzt förmlich mit dem Möbelstück. Sie redet und redet unbehelligt weiter - mit einem Möbelstück.
Es klingelt, Geza geht zur Tür, schaut durch den Türspion und sieht ihn ganz verzerrt. Sie öffnet die Tür missmutig, schaut durch ihn durch, wie durch einen Türspion. Ohne zu grüßen, oder sich hereinbitten zu lassen, tritt er ein, geht ins Wohnzimmer, setzt sich hin und fängt an, das am Vortag von Melanie gehörte zu erzählen, Geza macht es sich gemütlich und hört sichtlich desinteressiert weg. Als er fertig ist, steht er auf, schaut in seinen Sessel - er glaubt immer, er könne etwas vergessen oder verlieren - und geht.
Abends begegnet er in der Fußgängerzone der Stadt der verlorenen Seele Michael, der auf dem Weg zum Kino ist. Hallo Michael, dich erkennt man schon von weitem an deinem Gang, sagt er. Warum? fragt Michael. Du schlenderst durch die Gegend als würde sie dir gehören, antwortet er. Michael erwidert, ohne ihn richtig anzuschauen, sondern höchstens mit dem Blick in Erwägung ziehend: Aha. Was machst du? fragt er. Ich geh' ins Kino, antwortet Michael. In was denn? fragt er weiter. In 'Fight Club', antwortet Michael. Oh, der ist bestimmt gut, ich hab' schon viele gute Kritiken gelesen. Da muss ich auch noch 'rein. Der soll ziemlich tiefgründig sein, wie überhaupt alle Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe, sinniert er. Wo? Im Kino? fragt Michael ungläubig. Nein, allgemein halt, auf Video und so. Zum Beispiel 'Brazil', 'The Game' und ähnliche Filme, sagt er. Aha, meint Michael. Du, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Ciao, sagt er und geht ins Cafe Schaumschläger zu all den anderen Kaffeehaus-Plauderern und Möchtegern-Existenzialisten.
Nach zwei, drei Stunden im Cafe geht er noch in die Disco, um sich die Seele aus dem Leib zu tanzen und vielleicht ein paar Frauen aufzureißen. In der Disco angekommen, besorgt er sich erstmal er sich erstmal ein bisschen Koks und stürzt sich in die Menge der vom Nebel aus der Maschine verschluckten, monoton zuckenden, hüpfenden und kreisenden Leiber, deren Bewegungen vom Stroboskoplichtgewitter zerhackt werden. Nach einer Weile des 'Higher state of consciousness' geht er an die Theke, bestellt sich einen Drink, fängt ein 'Gespräch' mit einer Frau an, die ihren Kopf mit geschlossenen Augen im Rhythmus der Musik schüttelt. Er redet und redet und merkt in seinem - von Drogen, Musik, Tanz und Geschichtenerzählen bedingten - Rausch nicht, dass sie ihm gar nicht zuhört. Als er sie, nachdem er erzählt, was für ein toller Hecht er sei, und nachdem er immer wieder sexuelle Andeutungen gemacht hat - wie immer -, fragt, ob sie - Juliane heißt sie - Lust hätte, missdeutet er ihr Kopfschütteln als Verneinung. Aber wahrscheinlich war es gar keine Missdeutung.
Am nächsten Tag wandelt er durch die Stadt. Nebel zieht durch die Straßen, der echte, nicht der aus der Maschine. Fieberhaft sucht er nach Leuten, denen er irgendwas erzählen kann, oder von denen er sich Geschichten besorgen kann. Er findet niemanden, was ziemlich unheimlich ist, denn er kennt alle noch so unwichtigen Leute. Also begibt er sich in eine Telefonzelle. Als die Tür zufällt, scheint er sich in einer Art Niemandsland zu befinden. Um die Telefonzelle herum nur graues, lautloses Nichts. Er ruft einige Leute an. Melanie, Michael, und seinen Guru Horst. Niemand da. Nicht einmal Horst, der eigentlich meistens buddhagleich zu Hause hockt und sich von seinen Jüngern erzählen lässt, was in der Welt da draußen so vor sich geht. Geza, schließlich, meldet sich entnervt. Hi G., grüßt er anzüglich. Du schon wieder, sagt sie entnervt, du störst mich beim Schokolade-Essen, außerdem hab' ich grad' keinen Bock auf dich. Sie legt auf. Er geht nach Hause.
Dort steht er eine Weile vor dem Spiegel. Obwohl er alleine ist, versucht er die Tränen, die ihm das, was er dort sieht, in die Augen treibt, zu unterdrücken.
Er sieht - nichts.